Jeannette (Brie Larson) ist die Verlobte eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Bei geschäftlichen Abendessen erzählt David (Max Greenfield, “New Girl”), dass seine Partnerin “aus gutem Hause” kommt. Aber das stimmt nicht. Jeannette hat eine Kindheit und Jugend in einer komplett dysfunktionalen Familie erlebt. Ebenso wie ihre drei Geschwister litt sie unter ihrem erfolglosen, jähzornigen und alkoholabhängigen Vater Rex (Woody Harrelson). Er war ein echter Tyrann, der mit seiner Familie nie lange an einem Ort bleiben konnte. Er hat es allerdings auch verstanden, seinen Kindern auf kreative Weise eine Hoffnung auf bessere Zeiten zu geben: eigentlich sei er nur auf der Suche nach dem perfekten Platz, um dort für seine Familie ein Schloss aus Glas zu bauen. Gemeinsam mit Jeannette steckt er viel Zeit in dessen Planung. Von ihrer Mutter brauchen die vier Kids auch keine Unterstützung erwarten: anstatt dafür zu sorgen, dass die Kinder eine warme Mahlzeit auf dem Tisch haben, beschäftigt sie sich lieber mit ihrem Hobby, der Malerei.
Ich bin an diesen Film ohne große Erwartungen heran gegangen. Vorab kannte ich nur den Trailer, der irgendwie positiv-stimmungsvoller wirkte als es der Film dann letztlich war. Auch, dass es sich um die tatsächliche Biographie der echten Jeannette Walls handelt, war mir nicht bewusst.
Wer hier einen traurig-dramatisch-schön-skurril-komischen Film wie etwa “Little Miss Sunshine” erwartet (so wirkte auf mich zumindest die Tonalität des Trailers), der wird hier jäh enttäuscht. Im engeren Sinne hat der Film keine wirkliche Handlung, keinen Plot, der Spannung erzeugen sollte. Hier geht es “nur” um eine sehr detaillierte Auseinandersetzung und Analyse einer Vater-Tochter-Beziehung. Das “nur” ist bewusst in Anführungszeichen gesetzt, denn mich hat der Film auf ganzer Linie überzeugt, spiegelt er doch die vielen Facetten wider, welche die Beziehung von Jeanette zu ihrem Vater prägen.
Zum einen bekommt man schnell das Gefühl dafür, dass Jeanette die Lieblingstochter ihres Vaters ist. Ihr schmückt er die goldige Zukunft immer wieder in schönen Worten aus und lässt sie an seinen Entwürfen für das Schloss aus Glas mitwirken. Doch ebenso merkt man, dass hauptsächlich sie auch diejenige ist, die für seinen Frust und seine Aggression den Blitzableiter spielen muss.
Besonders angetan war ich von der darstellerischen Leistung von Woody Harrelson. Er schafft es meiner Meinung nach brillant einen Menschen darzustellen, der zwar rein objektiv einfach sehr oft seinen Wohnort wechselt, tatsächlich aber auf der Flucht vor sich selbst ist. Mich würde nicht wundern, wenn er nächsten Februar zum erlesenen Kreis der Oscar-Nominierten zählen würde. Hier zeigt er mal, dass er nicht nur zum plumpen “Haudrauf” taugt, den er in Filmen wie “Natural Born Killers”, “Zombieland” oder unlängst in “Planet der Affen: Survival” gespielt hat. Auch seine Rolle in den „Tribute von Panem“-Filmen lässt nur schwach erahnen, wie viel Potenzial in ihm steckt. Nee, der kann weitaus mehr, kann auch mit leisen Zwischentönen arbeiten, ohne immer die große Geste bemühen zu müssen. Die für „Raum“ frisch mit dem Oscar ausgezeichnete Hauptdarstellerin Brie Larson wirkt dagegen richtig fade.
Als sehr gelungen empfand ich auch die Erzählweise des Filmes, die sich gar nicht entscheiden kann, ob sie lieber in der Jetzt-Zeit der 80er Jahre spielt oder in Jeannettes Kindheit. Was in anderen Filmen eher für Verwirrung gesorgt hätte, geht hier wunderbar auf. Den Großteil der Zeit gibt es Passagen aus der Kindheit und Jugend. In einigen Szenen aus der Erwachsenen-Zeit sieht man, wie Jeannette hier und da der Blick entrückt. Als sie beispielsweise als Erwachsene bei ihrem Elternhaus einen großen Haufen Gerümpel vor der Tür sieht, schwelgt sie in Erinnerungen an den Gerümpelhaufen, der so schon 30 Jahre vorher gelegen hat – und schwups sind wir wieder bei einer Szene aus der Jugend. Diese Übergänge waren sinnvoll gesetzt und haben nicht dafür gesorgt, dass der Film wie “kaputtgeschnippelt” wirkt.
Alles in allem ist “Schloss aus Glas” ein hervorragend gespieltes Familiendrama, das zwar nie auf die große Tränendrüse drücken will, aber dennoch anrührt und ein gutes Gefühl dafür geben kann, wie sehr eine Kindheit unter einem tyrannischen Vater leiden kann. Wie sehr die Alkoholsucht sich auf die gesamte Familie auswirken kann und wie einsam sich Kinder in solchen Situationen fühlen können. Das macht den Film sicherlich nicht zur besten Wahl für einen amüsanten Filmabend, aber wer sich auch solch bedrückenden Thematiken nicht verschließt, bekommt hier einen sehr sehenswerten Film.
Wertung: 4,5/5